Singen näher betrachtet


Singen braucht keine „Technik“, es ist ein Stück unserer biologischen Grundausstattung. Wer diese Wahrheit ernst nimmt, muss nur mehr weglassen, womit er sich selbst beim Singen im Weg steht und erfährt, dass er damit nicht nur seine Klangfähigkeit, sondern insgesamt sein eigentliches Wesen befreit.



Jeder KANN singen!


Es handelt sich hier nicht um ein mystisch-undurchschaubares Geschehen. Wenn wir den Menschen nicht bloß als biochemische Maschine, sondern als Einheit von Körper, Seele und Geist verstehen, dann lässt sich dieser Vorgang ganz plausibel erklären.

Die Grundthese lautet: Jeder (organisch gesunde) Mensch kann singen - und zwar richtig. Und wir wissen das, weil wir es alle schon einmal gekonnt haben: Jedes kleine Kind kann stundenlang schreien, ohne heiser zu werden. Es kann mit unvergleichlichem Wohlklang lallen (mit einem nachweislich unübertroffenen Reichtum an mitschwingenden Obertönen). Und eine Kinderstimme klingt mühelos über weite Plätze und durch riesige Hallen. Für diese unglaubliche Klangentfaltung muss das Kind keinerlei Anstrengung aufwenden. Es ist einfach da, und der Körper folgt dem seelischen Impuls, sich auszudrücken ganz von selbst. Wir haben also ein „eingebautes“ Wissen darüber, was zu tun ist. Und dieses Wissen muss nicht zu Bewusstsein kommen, um wirken zu können.

Ein guter Sänger sollte also nur tun, was er als Kind getan hat: In diesem Augenblick aus einer von authentischen (also nicht von Pflichtgefühl oder Müssen getragenen) Absicht heraus Musik machen wollen – und seinen Körper musizieren lassen.


Singen hält jung und gesund
(Quelle: Ingeborg Boerdlein)


Wenn Kinder die Stimme erheben, so macht dies einfach gute Laune, zaubert ein Lächeln ins Gesicht und wirkt sogar ansteckend. Doch die eigene Stimme ist völlig eingerostet, Liedertexte sind bis auf die erste Zeile aus dem Gedächtnis entschwunden. Kein Wunder. Wann haben Sie das letzte Mal gesungen?

Dabei soll das Singen so gesund sein: Körper, Geist und Seele stimulieren, die Leistung, Kommunikationsfähigkeit und das Sozialverhalten fördern. Außerdem erzeugt Singen ein Wohlgefühl, baut emotionale Spannungen ab und hilft in der Trauer. Das haben Musikwissenschaftler herausgefunden. Lord Yehudi Menuhin, ein berühmter Geiger, hat das Singen gar als die "die eigentliche Muttersprache des Menschen" bezeichnet.

Bevor wir reden können, sind wir in der Lage, Laute zu produzieren. Das Schreien und Lallen des Babys sind Vorformen des Singens. Der natürlichste Gebrauch des Kehlkopfs ist das Singen. Zu allen Zeiten haben Mütter mit ihren Kindern gesungen, früher wurde bei der Arbeit und in der Familie gesungen, in der Kirche, beim Wandern und beim Marschieren. In Klageliedern sangen sich die Menschen die Trauer um die Toten von der Seele.

Dass es heute eher als peinlich empfunden wird, frei von der Leber weg zu singen, ist mit Sorge zu betrachten. So sind Kinder immer weniger in der Lage, ungezwungen ein Lied zu trällern, und Erwachsene haben zunehmend Stimmprobleme: "Eine Stimme, die nicht singt, wird schneller alt."

Das Singen ist eine Art Ganzkörperaktion: "Sehen Sie sich die berühmten Tenöre an, wie sie sich regelrecht aufbauen und mit beiden Beinen fest auf dem Boden stehen, ehe sie ihre Stimme erheben." Beteiligt sind nicht nur die Stimmorgane, wie der Kehlkopf und seine Stimmbänder, die mit Hilfe ausgeatmeter Luft wie die Saiten eines Instruments zur Schwingung kommen und Töne erzeugen, sondern auch die Lunge, das Herz, das Zwerchfell, ja sogar die Bauchdecken-, Bein- und Gesäßmuskulatur, die angespannt wird. "Das Singen ist zuerst der innere Tanz des Atems, der Seele, aber es kann auch unsere Körper aus jeglicher Erstarrung ins Tanzen befreien und uns den Rhythmus des Lebens lehren", hat Menuhin einmal gesagt.

Dass Singen echte Lebenshilfe und ein Gesundheitserreger ist, hat der Musikpsychologe und Sänger Karl Adamek aus Eichen gezeigt. Er erforscht die Wirkung des Singens auf Körper und Seele. "Durch Singen bewältigen viele Menschen Angst, Trauer und Stress. „Singer“ sind im Vergleich zu „Nichtsingern“ durchschnittlich signifikant gesünder und zwar sowohl psychisch als auch physisch."

Im Singen entfalten die Menschen ihre eigenen, jederzeit verfügbaren Selbstheilungskräfte. Fröhliches Singen scheint zur Ausschüttung körpereigener Botenstoffe, den Neuropeptiden zu führen, die den Hormonhaushalt und die Immunabwehr steuern. Singende Menschen sind lebenszufriedener, ausgeglichener, zuversichtlicher, haben ein größeres Selbstvertrauen, sind häufiger guter Laune, verhalten sich sozial verantwortlicher und sind psychisch belastbarer, hat Adamek herausgefunden. Gemeinsames Musizieren und Singen in der Schule fördert zudem nicht nur die soziale Entwicklung, sondern wirkt auch präventiv gegen Gewalt. Dies wurde in einer Langzeitstudie an einer Berliner Schule bestätigt. Musik und Singen werden im Gehirn gesteuert, nahe der so genannten Mandelkernregion als Teil des limbischen Systems. Dort kommen Empfindungen und Emotionen zu Stande. So erklärt sich auch, dass schöne Singstimmen Emotionen wecken können.

In einfachen Volksliedern wie "Guten Abend, Gute Nacht . . ." erkennt das Gehirn etwas Vertrautes, immer Wiederkehrendes, was tief im Gefühlsleben verankert ist. Diese Redundanz ist oft das Einzige, was Menschen nach einem Schlaganfall noch abrufen können. Es gab Menschen, die nach einem Schlaganfall nicht mehr sprechen konnten und ihren Namen nicht mehr beherrschten, aber den Text von "Oh Tannenbaum" noch fehlerfrei hervorbrachten.

Seit Jahren wird von Musikwissenschaftlern, Psychologen und Pädagogen beklagt, dass das Singen immer weniger belebt und immer mehr verlernt wird.